Osterspecial: Der goldene Kelch


Der goldene Kelch (Teil 1)
von Max Lucado


Auf dem Hügel lodern Flammen. Rauchwolken steigen in den Himmel. Das Feuer knackt und knistert.
Mitten aus dem Feuer erschallt ein Schrei- das verzweifelte Aufbegehren eines Gefangenen, als die Kerkertür verriegelt wird; das Brüllen eines Löwen, als er die Hitze der brennenden Steppe spürt.
Der Schrei eines verlorenen Sohns, als er vergeblich nach dem Vater Ausschau hält.
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Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Die Worte hallen von Stern zu Stern wieder und dringen in den Königssaal. Sie sind Sendboten eines blutigen Schlachtfeldes und taumeln in die Gegenwart des Königs. Zerschlagen und Zerbrochen flehen sie um Hilfe, um Erlösung.
Die Soldaten des Königs stehen bereit zum Angriff. Sie besteigen die Rosse, rücken die Schilder zurecht, ziehen die Schwerter. Doch der König schweigt. Er ist auf diesen Moment vorbereitet. Er kennt seinen Plan. Seit Beginn hat er darauf gewartet, dass diese Worte ausgesprochen würden-seit diesem Moment, als das erste Gift in sein Königreich hineingeschmuggelt wurde.
Es war getarnt. Es befand sich in einem goldenen Kelch mit einem langen Stiel. Es hatte einen wunderbaren fruchtigen Geschmack. Das Gift wurde nicht von der Hand des Königs gereicht, sondern von der Hand eines Fürsten- des Fürsten der Schattenwelt.
Bis zu diesem Augenblick hatte es keinen Grund gegeben, sich im Garten zu verbergen. Der König hielt sich bei seinen Kindern auf und die Kinder kannten ihren König. Es gab keine Geheimnisse. Es gab keine Schatten.
Doch dann betrat der Fürst der Schattenwelt den Garten. Er musste sich verstecken. Er war zu hässlich, zu widerwärtig. Sein Gesicht war entstellt. Deshalb kam er in der Dunkelheit. Nur seine Stimme war zu hören.
Hier, probier mal“, flüsterte er und reichte ihr den Kelch. „Es ist süß und macht klug.
Die Tochter hörte die Stimme und wandte sich um. Ihre Neugier wurde geweckt. Ihre Augen hatten nie zuvor einen Schatten gesehen. Seine geheimnisvolle Verborgenheit hatte etwas Verführerisches an sich.
Der König beobachtete sie. Seine Heerscharen wussten, dass der Fürst der Schattenwelt ihrer mächtigen Armee niemals gewachsen war. Sie standen bereit zum Angriff und warteten auf den Befehl.
Aber es wurde kein Befehl erteilt.
Sie muss die Entscheidung selber treffen“, erklärte der König, „Wenn sie uns um Hilfe bittet, dann eilt zu ihr und befreit sie. Wenn sie sich nicht an uns wendet, wenn sie nicht zu mir aufblickt, dann rührt euch nicht. Sie muss die Entscheidung selbst treffen.“
Die Tochter starrte den Kelch an. Der Wein duftete und weckte in ihr das Verlangen. Sie erhob die Hand, griff nach dem Kelch und trank das Gift. Von diesem Augenblick an, konnte sie ihren Blick nicht mehr frei heben.
Das Gift durchströmte sie, verzerrte ihre Sicht, ließ ihre Haut altern und veränderte ihr Herz. Sie duckte sich in den Schatten des Fürsten.
Plötzlich war sie einsam. Sie spürte nicht mehr die vertraute Nähe, die sie bis dahin gekannt hatte und für die sie geschaffen wurden war. Doch statt beim König Zuflucht zu suchen, lockte sie den Nächsten von ihm fort. Sie füllte den Kelch und bot ihn dem Mann an.
Erneut hielt sich das himmlische Heer bereit. Erneut warteten sie auf den Befehl des Königs. Doch er sprach dieselben Worte: „Er muss die Entscheidung selber treffen. Wenn er uns um Hilfe bittet, dann eilt zu ihm und befreit ihn. Wenn er sich nicht an uns wendet, wenn er nicht zu mir aufblickt, dann rührt euch nicht. Er muss die Entscheidung selbst treffen.
Die Tochter reichte dem Sohn den Kelch. „Es ist in Ordnung“, versicherte sie ihm, „Es schmeckt süß.“ Der Sohn sah, wie sich der Genuss in ihren Augen wiederspiegelte. Hinter ihr stand eine schattenhafte Gestalt.
Wer ist das?“, fragte der Sohn.
Trink einfach“, wiederholte sie. Ihre Stimme war rau vor Verlangen.
Als er den Kelch an die Lippe führte, spürte er das kühle Metall. Die Flüssigkeit ließ seine Unschuld in Flammen aufgehen. „Kann ich noch mehr haben?“, fragte er und strich mit dem Finger über den Boden des Kelches, um die letzten Tropfen zu genießen.
Die Soldaten blickte zum König und warteten auf Anweisungen. Die Augen des Königs füllten sich mit Tränen.
Reich mir dein Schwert!“ Der General stieg von seinem Pferd und schritt mit schnellen Schritten zum Thron. Er hielt dem König das blanke Schwert entgegen.
Der König nahm es nicht in die Hand. Er berührte es nur kurz. Es begann zu leuchten, bis es schließlich lichterloh brannte.
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Der General hielt das flammende Schwert in der Hand und wartete auf den Befehl des Königs.
Ihre Entscheidung soll respektiert werden. Da, wo das Gift ist, wird der Tod sein. Da wo der Kelch ist, wird Feuer sein. So soll er geschehen!
Der General ritt los und nahm seine Stellung am Tor ein. Das flammende Schwert ließ alle wissen, dass das Reich des Lichtes niemals wieder von Schatten verdunkelt werden sollte. Der König hasste die Schatten, weil die Kinder im Schatten nicht in der Lage waren den König zu sehen. Der König hasste die Kelche. Er hasste sie, weil sie bewirkten, dass die Kinder den Vater vergaßen.
Draußen vor dem Garten breiteten sich die Schatten immer weiter aus und immer mehr Kelche lagen am Boden verstreut. Immer mehr Gesichter wurden entstellt. Immer mehr Augen blickten verzerrt. Immer mehr Seelen wurden verändert. Niemand wusste mehr, was Reinheit war, niemand konnte den König noch erkennen. Niemand wusste, dass es einmal ein Reich ohne Schatten gegeben hatte.
In den Händen hielten sie den Kelch der Selbstsucht. Ihr Lippen verkündeten die Litanei der Lüge: „Hier, trink, es ist süß!
Und es geschah, wie der König gesagt hatte: Dort, wo sich das Gift befand, dort war auch der Tod. Dort wo sich der Kelch befand, war nun Feuer. Bis zu diesem Tag, an dem der König seinen Sohn sandte.
Dasselbe Feuer, das das Schwert entflammt hatte, entzündete nun eine Kerze und stellte diese mitten zwischen die Schatten.
Seine Ankunft blieb nicht unbemerkt, wie auch die Ankunft des Kelchträgers nicht unbemerkt geblieben war.
Seht dort, ein Stern!“, so wurde sein Kommen bekannt gegeben, „Ein helles Licht am dunklen Himmel!“ Ein Diamant, der im Staub glitzerte.
Strahle hell, mein Sohn“, flüsterte der König.
Immer wieder wurde dem Prinzen des Lichts der Kelch angeboten. Er wurde ihm von denen angeboten, die den König verlassen hatten. „Nimm nur einen Schluck, mein Freund!
Voller Qual blickte er in die Augen derer, die ihn in Versuchung führen wollten. Was war das nur für ein schreckliches Gift? Es bewirkte, dass der Gefangene versuchte, den zu töten, der gekommen war, um ihn zu retten!


Fortsetzung morgen …


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